Er ist einer der ganz großen Jazzvirtuosen unserer Zeit. Er musizierte mit Miles Davis und anderen Legenden und hatte doch auch immer eine Leidenschaft für die klassische Musik: der US-amerikanische Pianist Keith Jarrett. 1994 nahm er für ECM die Württembergischen Sonaten von Carl Philip Emanuel Bach auf. Und die sind ein Erlebnis.
Wie gemacht für die geschundene Seele des Jahres 2023
Keith Jarrett spielt Carl Philipp Emanuel Bach, den zweiten überlebenden und zweifellos berühmtesten der Bach-Söhne. Seine sechs Württembergischen Sonaten wurden in den frühen 1740er-Jahren komponiert und 1994 von Jarrett aufgenommen. ECM veröffentlicht sie jetzt erstmals. Es sind zwei CDs wie gemacht für die geschundene Seele des Jahres 2023: elegant, still, aufmüpfig, demütig, hintersinnig, humorvoll und mutig.
Auf dem Cembalo mögen einem diese sechs Sonaten vertraut sein, oder zumindest vertrauter. Auf dem Klavier sind sie es in der Regel nicht. Keith Jarrett schafft es durch die unprätentiöse Klarheit seines Spiels, dass man sich beim Hören wie ein Trüffelschwein auf die Suche macht nach dem Neuen bei Carl Philipp Emanuel Bach, nach den epochalen Differenzen zwischen Sohn und Vater.
Stilistisch, musikalisch, weltanschaulich. So hätte Johann Sebastian niemals komponiert und das weiß Jarrett, der viel Bach gespielt hat.
Keith Jarrett spielt die Württembergische Sonate Nr. 3 e-Moll (I. Allegro)
Jarrett spielt wie fließende musikalische Gedanken
Den Schlusssatz, Vivace, der dritten Württembergischen Sonate spielt Jarrett einerseits, als würfelte er Bauklötze durcheinander, und andererseits mit einer solch grandiosen Selbstverständlichkeit, ja Natürlichkeit, wie fließende musikalische Gedanken, dass es buchstäblich nur so und nicht anders sein kann. Nur am Klavier gespielt und nur von Keith Jarrett.
Erst wird alle Kunstfertigkeit der Welt aufgefahren, Fugenstimme auf Fugenstimme gehäuft, und am Ende bekommt der Komponist eine Depression, versinkt in trüben Moll-Gedanken und rafft sich nur mit Mühe wieder auf.
Keith Jarrett vollzieht diese Stimmungsschwankung höchst empathisch mit. Er empfindet mit, wie er überhaupt immer an Carl Philipp Emanuels Seite steht, nie besserwisserisch oder liebedienerisch. Ein Musiker müsse selbst gerührt sein, um andere zu rühren, hat der Bach-Sohn einmal gesagt. Keith Jarrett beglaubigt das mit jedem Takt seines Spiels.
24.1.1975: Keith Jarrett improvisiert sein "Köln Concert"
Eine Verbeugung vor dem begnadeten Pianisten Keith Jarrett
2020 gab Keith Jarrett, damals 75, bekannt, dass er aufgrund zweier Schlaganfälle wohl nie mehr Klavier spielen und live auftreten werde. Die Württembergischen Sonaten hat er 1994 aufgenommen, in der Hochphase seiner Auseinandersetzung mit Bach-Vater.
Dass sie jetzt veröffentlicht werden, ist eine Verbeugung des Plattenlabels ECM vor Jarrett, vor seiner Lebensleistung als Jazz-Virtuose und begnadeter klassischer Musiker. Allein sein Anschlag! Carl Philipp Emanuel Bach auf dem Flügel so zu spielen, dass das Cembalo darin immer durchhörbar bleibt, ist ein großes, sinnliches, zärtliches Vergnügen.
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